Warum Nietzsche Socrates als die grösste Nervensäge der Geschichte sah

Die meisten von uns haben irgendwann gelernt, dass Socrates der Held der Philosophie war – ein mutiger Denker, der die grossen Fragen stellte und die Athenische Elite zum Nachdenken brachte. Doch wenn man Nietzsche fragt, war Socrates weniger ein Held und mehr eine wandelnde Plage. Oder, wie er es ausgedrückt hätte: ein Zeichen dafür, dass die griechische Kultur auf dem absteigenden Ast war.

Nietzsche mochte keine halben Sachen, und seine Abrechnung mit Socrates und der „sokratischen Methode“ ist ebenso heftig wie faszinierend. Aber warum genau sieht er in Socrates und seiner Fixierung auf Argumente und Rationalität so ein grosses Problem? Tauchen wir ein.

Socrates: Die Geburtsstunde des Zweifelns

Socrates ist berühmt für seinen nervtötenden Stil, mächtige Athener zu löchern, bis sie ihre eigene Unwissenheit eingestehen mussten. Eine noble Mission, oder? Nicht für Nietzsche. Für ihn war Socrates der erste grosse Vertreter einer Kultur des Zweifelns, in der alles und jedes hinterfragt werden muss. Warum das problematisch ist? Nietzsche meint, dass eine selbstbewusste Kultur – eine wirklich starke Kultur – gar keine Argumente braucht. Sie handelt einfach. Punkt.

Statt stolz und instinktiv zu leben, wurden die Griechen mit Socrates plötzlich dazu gezwungen, alles zu rechtfertigen. Nichts durfte mehr einfach aus dem Bauch heraus entschieden werden. Nein, alles musste rational begründet sein. Nietzsche sieht darin den Beginn einer Kultur, die sich ihrer eigenen Stärke nicht mehr sicher war – und das war für ihn der Anfang vom Ende.

Die Moral der Schwachen

Nietzsche teilt die Welt grob in zwei Arten von Moral auf: die „Herrenmoral“ und die „Sklavenmoral“. Die Herrenmoral, das Ideal der alten Griechen, basiert auf Stärke, Stolz und der Freude an der eigenen Macht. Die Sklavenmoral hingegen ist das Produkt der Schwachen, die vor Neid und Ressentiment gegenüber den Starken nur so triefen.

Socrates, so Nietzsche, war der perfekte Vertreter dieser Sklavenmoral. Als Sohn des Volkes – und, wie Nietzsche es nicht vergisst zu erwähnen, als ziemlich hässlicher Mann – war Socrates kein aristokratischer Held, sondern ein „mobiler“ Philosoph, der den Mächtigen die Grundlage ihrer Überzeugungen entzog. Seine Waffe? Die Dialektik – eine Technik, die Nietzsche spöttisch als Werkzeug der Machtlosen beschreibt. Wer keine echte Stärke hat, so meint er, greift eben zu Argumenten.

Die Athener: Stark, stolz, gnadenlos

Um zu zeigen, was die Griechen vor Socrates ausmachte, verweist Nietzsche auf den „Melier-Dialog“ von Thukydides. Hier erklären die Athener den Bewohnern der Insel Melos, warum sie die Insel entweder unterwerfen oder auslöschen werden. Ihre Begründung? „Die Starken tun, was sie können, und die Schwachen erleiden, was sie müssen.“ Kein moralisches Blabla, keine Ausreden – nur reine Machtpolitik.

Nietzsche sieht in dieser Haltung die Essenz einer starken, selbstbewussten Kultur. Man braucht keine Argumente, wenn man die Macht hat, einfach zu handeln. Für uns moderne Menschen klingt das barbarisch, doch Nietzsche hätte gesagt: „Das ist nur euer Sklavenmoral-Reflex.“

Das Problem mit zu viel Nachdenken

Ein weiteres Beispiel für den „Verfall“ der griechischen Kultur sieht Nietzsche in Euripides, dem Dramatiker, der – natürlich beeinflusst von Socrates – alles erklären und rational machen wollte. Seine Figuren rechtfertigen ihre Handlungen bis ins kleinste Detail, und selbst die Handlung seiner Stücke wird oft durch Prologe oder Göttermaschinen „erklärt“. Für Nietzsche war das nicht genial, sondern ein Symptom: Der griechische Geist war so sehr von Zweifeln geplagt, dass er alles durchdenken musste – und damit die natürliche, instinktive Kraft seiner Kultur verlor.

Nietzsches Gegenentwurf: Der Übermensch

Was will Nietzsche stattdessen? Eine Rückkehr zu einer Moral der Stärke, die nicht ständig nach Gründen und Rechtfertigungen sucht. Der „Übermensch“ ist sein Ideal: Ein Mensch, der seine eigenen Werte schafft, der stolz und selbstbewusst handelt, ohne sich um abstrakte Prinzipien oder moralische Dogmen zu kümmern. Ein Mensch, der es wagt, „weil ich will“ als ausreichenden Grund zu betrachten.

Und wir?

Nietzsche wusste, dass es für uns, die wir in einer post-sokratischen Welt leben, schwer ist, uns das überhaupt vorzustellen. Unsere Kultur ist so durchdrungen von Rationalität und Moral, dass der Gedanke, einfach aus Instinkt zu handeln, fast absurd erscheint. Doch vielleicht können wir uns von Nietzsche eine kleine Lektion mitnehmen: Manchmal sollte man nicht alles zerdenken. Vielleicht reicht es, zu sagen: „Weil ich kann.“

Socrates mag ein Held der Philosophie sein, aber Nietzsche hätte uns daran erinnert, dass Helden nicht immer nur Lichtgestalten sind. Manchmal sind sie auch die Vorboten eines Verfalls. Aber hey – das ist natürlich nur eine Ansicht. Oder wie Nietzsche sagen würde: „Wage es, eine eigene Meinung zu haben – aber sei stark genug, sie nicht rechtfertigen zu müssen.“

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